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Kannst Du hupen, Kleines ?

Auf dem Rückflug einer Amerikareise saß ich neben einer eben noch reizenden Miss Unknown und wir kamen so auf die übliche Art von Fragerei nach dem Woher und Wohin ins Gespräch: Ach, Sie sind Deutscher. The Germans are so practical people! Das liess mich staunen. Hatte sich Deutschland nicht gerade wieder weltweit blamiert, weil es zum tausendsten Mal eine Steuerreform nicht hinbekam, sich aber in grotesker Weise mit der Reform der Rechtschreibreform und dem Dosenpfand exekutierte? Was sollte daran typisch praktisch sein?

Die Fähigkeit zum Praktischen hat ursprünglich etwas mit Erfindungsgabe zu tun, mit Situationen, in denen Improvisationsvermögen gefordert ist. Sie zeigt sich in den bekannten empirischen Untersuchungen der Verhaltensforschung, wie der Affe zur Banane kommt.

Steuern beispielsweise. Sind die praktisch? Wenn ja, für wen? Für ein pfiffiges soziales Management und den Schutz der Persönlichkeitsrechte Gebühren zu verlangen, mag trotz Erzwingung noch eine praktische Vereinbarung zwischen Staat und Bürger sein, wenn beide dabei massvoll bleiben. Hohe Steuern aber, die mit einer eifrigen Produktion von spitzfindigen Normen quittiert werden, reduzieren individuelle Verantwortung und erdrücken innovatives Handeln. Damit verdirbt sich der Staat möglicherweise Steuereinnahmen in der Zukunft. Was praktisch sei, ist also zunächst eine Frage des Standpunktes und ansonsten offensichtlich eine der erlebten Intelligenz oder der individuellen Behaglichkeit. Jedermann jauchzt glücklich Wie praktisch!, wenn er im Umgang mit Geräten und Gebrauchsanweisungen eine erleichternde Vereinfachung erfahren durfte. Auch soziale Beziehungen funktionieren in der Regel bestens, wenn sie unkompliziert gestaltet sind. Praktisches Denken und Handeln spiegelt dabei sehr gut die individuelle Einstellung zu sozialer Lebensart. Man kann verallgemeinern: praktische Menschen sind umgänglich, unpraktische jedoch eher verkniffen. Das optimistische Prinzip ist - Appetit: Lebenslust erfindet soziale Argumente. Soziale Talente sind offen, freundlich, vorsichtig, aber auch neugierig und listig. Der Witz ist ihnen wichtig. Welche Rollen spielen der Witz oder die Rafinesse in der deutschen Sprache? Ist nicht der Witz an sich, besonders dieser gewisse Witz auch immer ein Erfindungsfall?

Und erst Rafinesse, ein Synonym für den äusserst plastischen Begriff Kunstgriff. Deutsche verknüpfen mit diesem Wort eher einen Schwindel, wo mediterrane Menschen ein Vergnügen meinen. So durften unsere Gastarbeiter viele Jahre in einfallsreichster Weise eine deutsche VorzeigeErfindung sabotieren, um ihren GastGebern das Leben zu erleichtern, und die wir im Gegenzug als Touristen in vielen Länder niemals vermisst haben: ein Öffnungszeiten betreffendes Laden-SchlußGesetz. Wie ja jeder weiss, organisieren späte Ladenöffnungszeiten die urbane Lebensqualität in vitalster Weise. Im Jahr der deutschen Vereinigung antwortete ein bekannter amerikanischer Journalist auf die Frage, was die Welt von einem Europa unter einer etwaigen deutschen Führung zu befürchten habe: Ladenschlußgesetze vom Ural bis zum Atlantik! Ich fand das sehr cool pointiert.

Die Genialität der lustvollen Vereinfachung ist in der Tat kein deutsches Talent. Deutsch ist exzessive, umständliche Gründlichkeit. Bereits die Inthronisierung des hochdeutsch sprechenden Beamten im Barock verfolgte im Grunde als Ziel die Machtausübung mittels Pedanterie. Frühe böhmische political correctnes. Deutsche Amtssprache, aber auch weitgehend die Jounalistensprache besteht heute aus viel Wortklauberei, vorzugsweise Substantivierung in der Steigerung zu Bandwurmwörtern: im Zeitraum der Ladenschlußgesetzgebungsderegulation Asylbewerbergrenzverkehr auf unter oder von bis zu vielen Mobilfunktelefonen. Apropos: In den Staaten hatte ich gerade darüber gelesen, wie ein kleines Kind, auf einem riesigen sommerheissen FlugHafenParkPlatz im Auto eingeschlossen, es fertigbrachte, über die Nottaste am zurückgelassenen Telefon mit der lokalen Polzei zu sprechen. Aber wie soll man das Kind finden, bevor es erstickt? Eine Polizistin fragte: Kannst Du hupen, Kleines?
Hier wären wohl Peilsender ausgerückt.

Praktisches Denken, also das Denken in kurzen Wegen hat den Homo Sapiens als Homo Faber auf seinem langen Weg bis in die Gegenwart überleben lassen. Nicht nur das. Die Eroberung der Welt ist ihm mit dieser Begabung geglückt. Dass sich mit diesem Erfolg ein archaisches Lustgefühl verbindet, ist logisch. Es wundert also nicht, dass uns auch die Hirnforschung bestätigt: Lachen ist in der Evolution der Intelligenz grosser Säugetiere neuronal total vernetzt worden. Wer Erfolg haben will, stimuliert das Lachen seines Visàvis oder er lacht selbst, um anzustecken. Keine Charaktereigenschaft ist so begehrt wie der Humor.

Die auf Sicherheit und Ordnung gründende sinnliche Welt des Deutschen aber läßt sich interpretieren an seinen rigorosen Alltagsgewohnheiten, vorzugsweise im Zusammenhang mit seinem Auto, Ikone seines Besitzers, seiner Unhöflichkeit, seines gnadenlosen Egoismus', seiner Beharrlichkeit, seiner Belehrsamkeit. Gleiches gilt für drögen deutschen Karneval und deutschen Pauschaltourismus. Zuhause heisst's dann wieder streng: erst die Arbeit, dann das Vergnügen. Und wie steht es schliesslich mit seiner Einstellung zu individueller Verantwortung? Da delegiert der Deutsche fabelhaft, wie Nazi- und Stasi-, die Kohl- und zuletzt auch Schröder-Fischer-Aera mit ihren feinsten Vernebelungen bewiesen haben. Da wird er so erfindungsreich, man glaubt ihm kaum ...

Ästhetisch gesehen ist es so, dass Dinge, die uns umgeben, immer erst dann ihre gewisse Vollkommenheit erreichen, wenn sie für uns völlig unsichtbar werden. Wenn alles selbstverständlich und ausgeglichen ist, halten wir es für perfekt. So verhält es sich beispielsweise mit Licht und Blendung. Die Wahrnehmung von gut verteiltem Licht erzeugt eine angenehme und belebende Empfindung, der direkte Anblick der Lichtquelle dagegen Blendung und Abwehr. Ähnlich ist es mit der Üppigkeit an Verkehrsschildern - im Vergleich mit anderen Ländern. Politisch gesehen ist es so, dass Deutsche, obwohl sie vielleicht mehr als andere nach Vollkommenheit streben, doch überwiegend nur die den Empfindsamen störende Blendung verursachen. In dieser Kränkung entsteht die deutsche Angst. Aus dieser Erfahrung wird man vorsichtig und leistet sich keine Visionen mehr. Schmollend und blasiert legt man sich in der Höhle seines Netzwerks schlafen. Reformen haben sich zu einer Angelegenheit für Drachentöter ausgewachsen.

Die letzten 50 Jahre in Deutschland sind geprägt von Lobbyismus und Bestechlichkeit, wie das früher so genannten Bananenrepubliken zugeschrieben wurde: Neue Heimat, Holzer, Strauss, Pfahls, Esser, Ackermann, Visaaffäre, VW etc pp. In Endlosschleifen beschäftigen zuviele Finanzämter Heere von Steuerberatern. Lobbyistenarmeen attackieren ameisengleich die Parlamente. Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände, öffentliche Dienste und die Sozialgerichte verwalten die Demokratie wie Schrebergärten noch der allerkleinsten Ansprüche.

Südamerikaner, Kariben, andere große Mischkulturen meistern ihr tagtägliches Chaos durch ständige spontane Einfühlung, sie schauspielern dabei gern, um Unterschiede zu überbrücken, immer mit viel Spaß am Witz, gepaart vor allem mit der Disziplin, dem Gegnerüber stets Würde und Anteilnahme zu erweisen. Da dürften wir ja im Hinblick auf das praktische Denken all jenen dankbar sein, die etwas Chaos zu uns bringen, damit wir Banalitäten umgänglicher gestalten. Praktisches entsteht ja aus optimistischer Haltung im Chaos. Anstatt uns aber dabei zu entdeutschen, rüsten wir die Bürokratie auf. Wir sind bereits irrsinnig geworden in der Überregulierung behördlicher und auch privater Rechthaberei. Wir verhalten uns nicht nur wie Egoisten, die sehr schlau ein System ausnutzen, sondern wie Kurzsichtige, die nicht über ihren Tellerrand hinaussehen können. Schon die alten Griechen, die solche Menschen Idiotae tauften, ahnten, dass an diesen Krankheiten, wenn sie epidemisch werden, Kulturen erlöschen können.

Um zu lernen, typisieren wir permanent Haltungen oder Handlungen anderer in Bezug auf Übereinstimmung oder Abweichung von den erlernten eigenen Verhaltensweisen. Dabei entstehen Vorurteile, die paradoxerweise deshalb so bedeutend sind, weil sie unseren emotionalen VerhaltensHintergrund darstellen und so unsere Motivation prägen. Das darf man sich jedoch nicht als erstarrt vorstellen, sondern wie eine Knetmasse, die nur geschmeidig bleibt, wenn sie permanent geändert wird. Flexibilität also. Nicht wie Luther. Beweglich ist man nur, wenn man die Positionen wechseln kann. And last not least: ein Spiesser ist, wer bei diesem spielerischen Rollen tauschen an sich selber kleinere Masstäbe anlegt als an andere.

Machte man sich Wechsel und Wandel unserer Vorurteile zur Lebensgrundlage, dann eröffneten sich plötzlich sehr interessante und ereignisreiche neue Welten. Lenbenswandel ist so ein etwas aus der Mode gekommenes Wort, das vielleichtzu überdenken lohnt. Auch die leicht angestaubten psychologischen Begriffe Appetenz und Apperception beschreiben dabei immer noch als schlichte Schlüsselbegriffe unsere archaischen Verhaltensmuster von Neugier und Anregung, den wesentlichsten Motiven unserer Sinnlichkeit, aus denen Erfahrungbildung und Erkenntnisssteuerung entwickelt werden. Intelligenz meint schließlich: verstehen wollen, begreifen können, Kenner sein. Unter diesen Umständen ist das Leben zu kurz für eine lange Leitung (WerbePoesie).

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